Loslassen

LOSLASSEN

Ich glitt fast zu schwerelos durch die Geburtsphase meines Sohnes. Ein paar Tage vor diesem Ereignis träumte ich, dass mein Kind im Auto zur Welt kommen würde. Einige Male hatte ich das Gefühl, dass die Wehen schon begonnen hatten und Pascal eilte jeweils nach Hause, um mich zu unterstützen. Nach dem dritten Fehlalarm nahm er mich verständlicherweise nicht mehr so ernst und ließ sich nach dem vierten Anruf viel Zeit, um nach Hause zu kommen. Als er da war, waren die Wehen bereits in vollem Gange. Trotzdem dachten wir, dass es noch nicht an der Zeit war, ins Geburtshaus ‚Wald‘ aufzubrechen. Die Wehen wurden jedoch immer stärker und ich drängte, dass wir sofort losfahren sollten. Also packten wir mitten in der Nacht unsere Sachen zusammen, weckten Amélie und gingen zu unserem Auto. Auf der Autobahn überfielen mich die Presswehen in einer Heftigkeit, die keinen Aufschub mehr duldete. Pascal raste mit hundertachtzig Kilometer pro Stunde über die leere Autobahn, während ich in einem Gemisch aus Stöhnen und Schreien zusammengekrümmt auf dem Beifahrersitz die Sekunden zählte. Amélie saß auf dem Rücksitz in ihrem Kindersitz und plauderte angeregt drauflos wie eine brillante Geschichtenerzählerin. Vermutlich suchte sie krampfhaft einen Weg, meine Schreie zu übertönen, da ihr kleines Kinderherz noch nicht so genau einordnen konnte, warum Mami so laut herumschrie.

Vor dem Geburtshaus in Wald bremste Pascal scharf ab. Wir eilten zum Eingang wo uns die Hebamme bereits erwartete. Sie führte mich in den Geburtsraum und zog mir als erstes meine Schwangerschaftshose aus. Währenddessen wollte Pascal einen Parkplatz für das Auto suchen und den Großeltern Bescheid geben, dass sie Amélie abholen können. Ich kniete vor der großen Badewanne auf einer Matte. Die Hebamme rannte zum nächsten Telefon, um die zweite Hebamme herbei zu rufen. Es ist eine wichtige Auflage für die Geburtshäuser, dass immer zwei Hebammen während einer Geburt anwesend sein müssen. Während sie in einem Nebenraum telefonierte, rief sie mir zu: „Warte noch ein bisschen! Halte das Kind noch etwas zurück!“ Das war leichter gesagt als getan! Ich spürte, dass dieses Kind sich nicht länger aufhalten ließ und brachte es alleine zur Welt. Als die Hebamme und schließlich auch Pascal wieder da waren, hielt ich den kleinen Jungen bereits in meinen Armen.

Luca sah aus wie ein kleiner Tibeter. Seine Haare waren lang, dicht und schwarz und seine Augen dunkel und zu schmalen Schlitzen geformt. Als ich diesen kleinen Engel ansah, dachte ich: ‚Innere Kraft‘. Er strahlte eine große Ruhe aus, ein inneres Wissen. Ich hatte das Gefühl, eine sehr alte Seele in einem kleinen Körper in meinen Armen zu halten. Ein warmes Liebesgefühl durchströmte jede Faser meines Seins. Ich war glücklich und sehr erschöpft.

Eine Woche verbrachten wir im Geburtshaus und hatten die Gelegenheit, mit drei anderen jungen Eltern unser Glück zu teilen. Amélie besuchte uns oft mit meinen Eltern, die während dieser Zeit liebevoll für sie sorgten. Nach einer Woche fuhren wir zu viert nach Hause. Während der ersten Nacht, als ich Luca an meine Brust führen wollte, um ihn zu stillen, fühlte er sich glühend heiß an. Er nippelte ein wenig und schloss anschließend erschöpft seine Augen. Beunruhigt holten wir den Fiebermesser und erschraken fürchterlich als er auf über vierzig Grad Celsius anstieg. Ohne zu zögern packten wir die nötigsten Sachen zusammen und rasten wiederum mit überhöhter Geschwindigkeit über die Autobahn, dieses Mal nach Zürich ins Kinderspital. Luca wurde sofort auf Infektionen untersucht. Als nichts darauf hinwies, wurde er auf die Intensivstation gebracht. Uns wollten die Ärzte nach Hause schicken, da wir offenbar nichts weiter tun konnten und abwarten mussten. In mir schnürte sich alles zusammen. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte mein Kind nicht alleine lassen.

Einmal mehr war ich gefordert, trotz meiner Verzweiflung aus meinem Zentrum heraus Klarheit zu bewahren. Unmissverständlich gab ich den Ärzten zu verstehen, dass ich mein Kind keine Sekunde lang alleine lassen würde. Die Ärzte realisierten, dass kein Argument meine Meinung ändern würde und ich erhielt am anderen Ende des langen Spitalganges ein kleines Zimmer zugewiesen. Vier Nächte sollte ich in diesem ungemütlichen düsteren Zimmerchen verbringen, mit vielen Tränen, schlaflosen Stunden und Albträumen. Da bei Luca trotz vieler Untersuchungen keine Besserung in Aussicht war, verlor ich Tag für Tag immer mehr die Hoffnung. Meine Panik, nochmals ein Kind zu verlieren, stieg ins Unermessliche. Niemand konnte mir sagen, was dem Jungen fehlte. Er lag mit geschlossenen Augen und hohem Fieber in seinem Bettchen und dämmerte teilnahmslos vor sich hin. Immer wieder versuchte ich ihn zu stillen und Kontakt zu ihm herzustellen. Gleichzeitig realisierte ich, dass seine Seele weit weg war und ich ihn nicht erreichen konnte. Sie schwebte irgendwo in einem Raum zwischen Himmel und Erde.

Während der vierten Nacht, als ich hellwach in meinem Bett lag und mich unruhig hin und her wälzte, überkam mich plötzlich eine Wut. Sie war so übermächtig, dass ich am liebsten laut geschrien hätte. Ich musste etwas unternehmen! Das tatenlose Zuschauen hatte ein Ende! Ich stand auf und marschierte zielgerichtet durch den langen düsteren Spitalgang auf die Intensivstation zu. Die Nachtschwester wollte mich aufhalten, als ich in den Raum stürmte. Ich war jedoch so klar bei mir wie schon lange nicht mehr. Dies hatte die Wirkung, dass sie mich gewähren ließ. Als ich vor dem Bettchen von Luca stand und ihn liebevoll ansah, überkam mich ein tiefes befreiendes Gefühl. Ich sagte zu ihm: „Aus irgendeinem Grund hast du dich entschieden, hier auf diese Erde zu kommen. Und ich habe das Gefühl, dass die Angst, hier anzukommen, mächtiger ist. Ich verspreche dir, dass ich dich unterstützen werde, egal was für Aufgaben du dir für dieses Leben vorgenommen hast. Du wirst nicht alleine sein! Und jetzt fordere ich dich auf, dich zu entscheiden, ob du hier sein möchtest oder ob der Zeitpunkt für dich noch nicht gekommen ist. Denn dieser Zustand hier hält keiner aus! Ich werde deine Entscheidung in Liebe respektieren.“

Aufatmend drehte ich mich um, stapfte durch den langen Gang zurück in mein Zimmer und schlief tief und fest bis zum Morgen. Als ich dann am Bettchen von Luca stand, schaute er mich hellwach und aufmerksam mit seinen dunklen Augen an. Ich nahm ihn in meine Arme und zum ersten Mal seit seiner Geburt saugte er kräftig an meiner Brust. Ich war überwältigt. Tränen der Erleichterung flossen mir über das Gesicht. Von diesem Augenblick an wusste ich, dass er sich entschieden hatte, seinen Weg mit uns auf dieser Erde zu gehen.