Samira – Biographische Anekdote – Einatmen

Einatmen

Spital Bülach. Drei Tage nach Weihnachten 1964. Während meiner Geburt drang der Duft von frisch gebratener Rösti durch die halb offene Zimmertür. Meine Mutter presste kurz nach Mitternacht mit letzter Kraft mein Köpfchen durch den engen Geburtskanal. Aufatmend kullerten ein paar Schweisstropfen über ihr hübsches Gesicht. Geschafft. Gleissend helles Licht und Röstiduft aus dem angrenzenden Schwesternzimmer waren meine ersten Eindrücke von dieser Welt. Mein Vater konnte sein Glück nicht fassen, als er sah, dass ich ein Mädchen war. Er durfte mich im warmen Wasser baden. Dieser Empfang war für meinen kleinen Körper wie Balsam. Die starken Arme meines Vaters gaben mir ein Gefühl von Geborgenheit.
In der Nachbarschaft lebte zu jener Zeit eine befreundete Familie. Während ich im Bauch meiner Mutter heranwuchs, starben die Eltern dieser Familie kurz hintereinander und hinterliessen vier kleine Kinder. Meine Eltern versprachen ihren Freunden am Sterbebett, die Kinder bei sich aufzunehmen. So wurde ich in eine Grossfamilie hinein geboren. Meine Mutter spürte, solange ich in ihrem Bauch war, eine aussergewöhnliche Kraft. Jedoch nach meiner Geburt fiel diese Energie zusammen. Ein tiefer Erschöpfungszustand übermannte sie.
Meine Eltern waren rund um die Uhr von dieser Kinderschar in Beschlag genommen. Im tiefsten Winter wurde ich in kuschlige Decken gehüllt und im Kinderwagen auf die geschützte Terrasse geschoben. Sie wollten mich vom Trubel im Haus fernhalten. Dies gab mir die Gelegenheit, oft in der geistigen Welt bei meinen Freunden zu weilen.
Ich wurde gehätschelt und verwöhnt. Alle wollten mich halten und liebkosen. Babys haben eine unvergleichlich schöne Ausstrahlung, sind noch voller Unschuld und Vertrauen. Sie strahlen bedingungslose Liebe aus. Wenn die leidgeprüften Waisenkinder mich in ihren Armen hielten, war ein kleines Stück ihrer Welt wieder hergestellt. In dieser emotional angespannten Situation war ich ihr kleiner Engel, der sie mit leuchtenden Augen anstrahlte und ihre tieftraurigen Kinderseelen etwas aufheiterte.
Mein älterer Bruder Jean-Marc verehrte mich zutiefst, da ich eine Verbündete war in dieser für ihn schwierigen Situation. Die anderen Kinder empfand er als Eindringlinge, die ihm seinen angestammten Platz wegnahmen. Die Situation spitzte sich für meine Eltern immer mehr zu. Schon bald mussten sie sich schweren Herzens entscheiden, diese vier Kinder an eine andere Pflegefamilie abzugeben. Es war ihnen wichtig, dass die vier Kinder zusammen bleiben konnten. Nach langem Suchen fanden sie schliesslich einen geeigneten Platz bei einem jungen Paar mit einem grossen Haus.

Ich wuchs in einem Pfarrhaus in der Stadt Zürich auf. Das Haus wirkte mit seinen elf Zimmern, die auf drei Stockwerke verteilt waren, und einem parkähnlichen, verwunschenen Garten riesengross auf mich. Ein wahres Paradies für Kinder. Ich teilte mit meinem älteren Bruder Jean-Marc und den beiden jüngeren Brüdern Samuel und Andreas ein grosses Zimmer im ersten Stockwerk. Wir fühlten uns dadurch sicher und geborgen in diesem für uns Kinder überdimensional grossen Haus. Von der obersten Etage hatten wir freie Sicht über die Stadt und auf den Zürichsee. Ich liebte diesen Blick. Er vermittelte mir das Gefühl von Freiheit.
Als kleines Mädchen war ich sehr schüchtern. Ich fühlte mich am wohlsten, wenn ich alleine oder zu Hause bei meinen Eltern war. Jedes mal, wenn es an unserer Haustür klingelte, versteckte ich mich an einem sicheren Ort im Haus und hoffte, dass mich niemand finden würde. Bei uns klingelte es andauernd, da immer irgendjemand etwas von meinem Vater wollte. Entweder waren es Randständige, die Hilfe benötigten oder andere Hilfesuchende, die als letzte Hoffnung den Pfarrer aufsuchten. Einerseits faszinierten mich diese Menschen zutiefst, da sie so anders waren, als die Menschen, die ich kannte. Andererseits flössten sie mir auch Angst ein, da sie meistens verwahrlost und elend aussahen. Jedoch immer erhielten sie von meinem Vater einen guten Rat oder eine Gabe, die ihnen half eine weitere Zeit zu überbrücken. Es faszinierte mich, dass meine Eltern allen verzweifelten Menschen ihre Hilfe anboten. Die bedingungslose Hilfsbereitschaft meiner Eltern hat mich tief geprägt.
Es gab auch Streit in unserer Familie. Vor allem meine Brüder waren kampflustig. Mein Vorteil wiederum war, dass ich als einziges Mädchen, das eher schüchtern und zurückhaltend war, fast immer von den Kämpfen verschont wurde. Wegen meiner blonden Haare wurde ich oft „kleiner Engel“ gerufen. Dieser Status und meine Zurückgezogenheit gaben mir Schutz vor Angriffen.
Jean-Marc hat uns Kinder manchmal regelrecht tyrannisiert. Er war der Älteste und hat diese Rolle sehr ernst genommen. Als seine jüngere Schwester konnte ich noch nicht erkennen, dass er es am schwersten in unserer Familie hatte. Er war der Vorreiter für uns jüngere Geschwister und pfadete den Weg für uns, so dass wir es später viel leichter haben sollten, unsere Bedürfnisse bei den Eltern durchzusetzen. Diese Verantwortung äusserte sich oft in seinem Machtgehabe uns gegenüber. Wir mussten machen, was er uns befahl, sonst setzte es Schläge. Einmal brach er sich während eines Skiurlaubs sein Bein und es wurde eingegipst. Es war unsere Pflicht, jeden Freitagnachmittag unser Spielzimmer aufzuräumen. Da Jean-Marc mit einem Gipsbein natürlich nicht mithelfen konnte, thronte er wie ein König auf dem Sofa und bedrohte uns mit seiner Krücke. Samuel bekam am meisten Schläge ab, da er von zarter Statur war und sich am wenigsten wehren konnte.
Später, als Jean-Marc viel zu jung diese Erde verliess, erkannte ich, dass er ein wundervoller Lehrer für mich war. Jedoch dazu komme ich etwas später.
Da ich ein schüchternes Mädchen war, hatte ich nicht viele Freundinnen. Was ich jedoch immer hatte, war eine enge Freundin. Isabelle war für mich wie eine Schwester, die ich nie hatte. Bei ihr zuhause durfte ich Donald-Duck-Büchlein lesen, die sie unter ihrem Bett versteckt hielt. Wir heckten Streiche aus. Zum Beispiel banden wir uns den rechten Arm mit Stoffbinden so dick ein, dass es aussah wie ein Gips. Der Lehrerin erzählten wir, dass wir unsere Arme gebrochen hätten und deshalb nicht mehr schreiben konnten. Den zweifelnden Gesichtsausdruck der Lehrerin ignorierten wir und banden jeden Morgen unsere Arme erneut gewissenhaft ein.
Ich erlebte eine wunderschöne Kindheit, fühlte mich geliebt, verstanden und getragen von meinen Eltern, beschützt von meinen Brüdern und „verschwestert“ mit Isabelle. Tief in meinem Inneren schwelgte jedoch leise und konstant ein schwebendes Gefühl, so als hinge ich zwischen Himmel und Erde. Ich flüchtete oft in den naheliegenden Wald. Die Bäume hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich spürte das Pulsieren ihrer Wurzeln tief in der Erde und verband mich mit diesem Gefühl. Gleichzeitig sprach ich mit Nathanael, meinem geistigen Freund und suchte seinen Rat. Mit ihm konnte ich über alles sprechen. Zum Beispiel war es unheimlich schwierig für mich, dass ich mich so schwer von den Geschichten anderer Menschen abgrenzen konnte. Es geschah oft, wenn ich jemandem begegnete und dieser Person in die Augen schaute, dass sich ihre ganze Lebensgeschichte wie ein Film vor mir abspulte. Dies waren zum Teil sehr belastende Bilder. Auch wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich realisierte, dass ich oft Einblicke in Lebenssituationen erhielt, die nach Lösungen verlangten. Jedoch wusste mein Kinderherz nicht, ob ich die Erlaubnis hatte, etwas zu sagen. Ein einziges Mal getraute ich mich, einer hochschwangeren Frau zu sagen, dass das Herz ihres Kindes im Bauch nicht mehr schlage und fragte sie, ob sie das auch spüren könne. Sie schaute mich entsetzt an und sagte mit erstickter, wütender Stimme: „Du freches Ding! Was erlaubst du dir eigentlich?“ Später erfuhr ich, dass dieses Kind tatsächlich nicht mehr lebte und sie den toten Körper trotzdem noch gebären musste. Seither hielt ich lieber meinen Mund.
Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass ich bei meiner Geburt vergessen hatte, meine Flügel abzustreifen. Das Dasein auf der Erde empfand ich als beschwerlich und mühevoll. Am liebsten wollte ich meinem Körper entfliehen und davonfliegen. Wenn ich in der Einsamkeit weilte, breitete ich meine Flügel aus und meine Seele glitt auf direktestem Weg in die geistige Welt. Dies war meine Realität und da fühlte ich mich zu Hause. Die Erde ist ein wunderschöner Planet und doch empfand ich ihn oft als kalt und öde. Bei Begegnungen mit anderen Menschen staunte ich manchmal wie ein kleines, unwissendes Kind über die Art und Weise, wie miteinander umgegangen wurde. Ich beobachtete schockiert, wie die Menschen einander verletzten. Oft hatte ich das Gefühl, in einem Irrenhaus zu leben. Ich fühlte mich wie eine Touristin in einem fremden Land.
Immerzu beschäftigte mich die Frage, warum ich hier auf der Erde bin und weshalb ich nicht von hier weg kann. Ich fühlte mich gefangen in diesem Körper und wollte diesem Gefühl entrinnen. In mir schrie eine unstillbare Sehnsucht nach etwas, das ich nicht benennen konnte. Oft war ich verzweifelt, denn am liebsten wollte ich mich einfach ins Nichts auflösen. Der einzige Trost war die Anwesenheit von Nathanael, der mir das Gefühl von Heimat vermittelte. Jedoch auch er konnte meine Sehnsucht nach Befreiung nicht stillen. Geduldig salbte er meinen inneren Aufruhr mit seinem einfühlsamen Wesen.
Ich kann mich sehr gut an ein Erlebnis erinnern, als ich ungefähr neun Jahre alt war. In unserem Haus gab es ein kleines Zimmer, das an das Büro von meinem Vater grenzte. Dieses Zimmerchen bestand sozusagen nur aus Fenstern. In alle Richtungen hatte man einen wunderbaren Ausblick, konnte die Wolken am Himmel beobachten und die Vögel auf den Baumspitzen begrüssen. An jenem Tag stand ich inmitten dieses kleinen Raumes und schaute in die Ferne. In mir wallte wieder diese verzweifelte Sehnsucht nach Befreiung auf. Plötzlich spürte ich, wie Nathanael sachte seine Hand auf meine Schulter legte. Ein unbeschreibliches Gefühl von „Schweben“ durchströmte mich. Es zog mir förmlich den Boden unter den Füssen weg und ich hatte das Gefühl, ich schwebe irgendwo im Universum. Nach meinem Empfinden dauerte dieses Gefühl nur Sekundenbruchteile und trotzdem eine Ewigkeit. Alles löste sich auf. In mir entstand ein unwiderrufliches Wissen, dass es dort draussen ewig weiter geht und dass das Leben auf diesem Planeten nur vorübergehend ist. Es fällt mir schwer, diese Empfindungen in Worte zu fassen. Mir wurde bewusst, dass ich meinem Körper nicht entrinnen kann. Dies liess eine pure Verzweiflung in mir hochsteigen, da ich mir nichts sehnlicher wünschte, als für immer bei meinen Freunden in der geistigen Welt zu weilen. Diese Welt war für mich die Realität und das Leben auf der Erde ein Rätsel, das ich einfach nicht verstehen konnte. Ich fühlte mich fremd und unverstanden, allein und verletzlich. Nach diesem Erlebnis zog ich mich innerlich noch mehr zurück.
Zu jener Zeit verstand ich vieles noch nicht und war verunsichert, wie ich mich unter den Menschen verhalten soll. Ich konnte mit niemandem über meine Erlebnisse sprechen, da ich dachte, dass es sowieso niemand verstanden hätte.
Ich begann meine Sehnsucht zu verdrängen und gab mir Mühe, ein fröhliches Kind zu sein. Sämtliche Wahrnehmungen speicherte ich in meinem Innern und erstickte manchmal fast daran. Mein Körper reagierte mit Verstopfung, ich konnte bis zu zwei Wochen nicht mehr auf die Toilette gehen. Als es dann nicht mehr anders ging, sprengte sich mein Anus schmerzhaft auf, so dass ich tagelang erneut voller Schrecken vermied, auf die Toilette zu gehen. Dies dauerte so lange, bis ich es nicht mehr aushielt und meiner Mutter schamvoll davon erzählte. Sie begann mir verdauungsfördernde Ballaststoffe mit viel Flüssigkeit einzuflössen.
Auch litt ich jahrelang fast ununterbrochen an schwerer Angina. Die Entzündung in meinem Rachen verbot es mir zu sprechen, was mir ja nur recht war, abgesehen von den Schmerzen.
Ich ass viel und wurde pummelig. Dies störte mich nicht weiter, denn je fester mein Körper wurde, desto konkreter fühlte ich mich mit der Erde verbunden. In der Schule kamen verächtliche Bemerkungen über die Lippen meiner Mitschüler und ich stopfte noch mehr in mich hinein. Sport, insbesondere Leichtathletik, war der blanke Horror für mich. Ich konnte weder schnell laufen, noch hoch über eine Stange, geschweige denn in die Weite springen. Dafür entdeckte ich meine Freude am Geräteturnen. Ich liebte es, meine Muskeln zu stärken, die Glieder zu dehnen und mit meiner Balance zu spielen. Ich begann in meiner Freizeit bis zu fünf Mal jede Woche zum Geräteturnen zu gehen. Auch in den langen Sommerferien verbrachte ich jeden Tag in einer kühlen Turnhalle und schwitzte leidenschaftlich an den Geräten. Ich begann voller Hingabe an Wettkämpfen teilzunehmen. Dies machte ich so lange, bis ich eines schönen Sommertages ausgerufen wurde: Ich war die Zweitbeste! Stolz trug ich eine Silbermedaille nach Hause. Die Körperbeherrschung verlieh mir ein Gefühl des Nachhausekommens in meinen Körper. Ich nahm drastisch ab, fühlte mich stark, beweglich und in meiner Mitte verankert.

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